Wer bin ich und wenn ja wie viele?

Es gibt noch weitere  –  komplexere  –  Traumafolgestörungen, die wir Menschen als Überlebensstrategien entwickeln können (müssen). Wenn die erlebte Gewalt extrem zerstörerisch war und sehr früh in unserem Leben stattgefunden hat, wenn die Hilflosigkeit und der Kontrollverlust extrem waren, wenn niemand geholfen hat, wenn das Alleinsein extrem war, dann kann es sein, dass unsere Seele zum Überleben zersplittert. Diese Überlebensstrategien werden dissoziative Störungen genannt, weil bei der Zersplitterung unserer Seele abgespaltene (dissoziierte) Persönlichkeitsanteile entstehen. Sie tragen jeweils Teile der unerträglichen Traumaerinnerungen in sich.

Überlebensstrategien grafisch aufbereitet

Überlebensstrategien nach extremer Gewalt (komplexe Traumafolgestörungen)

  • Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline–Typus
  • DESNOS (Disorder of extreme stress) als Folge von oft frühen Langzeittraumatisierungen:
    neben den Symptomen der PTBS (posttraumatischen Belastungsstörung) haben diese Menschen oft keine Kontrolle über Gefühle und Impulse. Sie haben dissoziative Symptome wie Gedächtnislücken, erleben sich entfremdet, erleben ihre Persönlichkeit in getrennten Anteilen. Sie fühlen entweder zu viel oder zu wenig.
  • DDNOS (Dissociative disorder not otherwise specified):
    Es gibt das Erleben, sehr stark voneinander abgegrenzte Persönlichkeitsanteile in sich zu haben, ohne Zeitverluste. Häufig ist eine biografische Lücke bis ins Jugendalter.
  • Ego–State–Disorder :
    Ganze Bereiche der Persönlichkeit sind in Ego–States oder Ich–Zustände aufgespalten. Diesen Menschen fällt es schwer, bewusst von einem Ich–Zustand in den anderen zu kommen. Es gibt das Erleben keine Kontrolle über diese Zustände zu haben.
  • DIS (Dissoziative Identitätsstörung):
    Das Ich musste zum Überleben in mehrere Identitäten oder Persönlichkeiten aufspalten, die die vollständige Kontrolle über das Verhalten übernehmen können.

Alle Bestandteile unserer Identität hängen bei einem gesunden Ich zusammen und wir erleben uns als ein zusammengehöriges Selbst. Traumata zu erleben, zu überleben, wirkt sich je nach Schwere, Dauer und Zeitpunkt der Traumatisierung in unserem Lebensalter immer auch auf unsere Persönlichkeitsstruktur bzw. die Entwicklung unserer Persönlichkeitsstruktur aus. Wenn wir extreme Traumatisierungen überleben mussten und zum Überleben eine dissoziative Störung entwickelt haben, dann liegt dem auch eine sogenannte dissoziative Persönlichkeitsorganisation zugrunde. D. h., dass unsere Persönlichkeit aus mehreren dissoziierten Persönlichkeiten besteht, die unterschiedlich reagieren, fühlen, denken, wahrnehmen und sich verhalten können. Wenn sich unser Ich zum Überleben aufspalten musste, dann entstehen meistens zwei unterschiedliche Formen von Persönlichkeitsanteilen. Das sind einmal die Persönlichkeitsanteile, die sozusagen für das Überleben zuständig sind. Sie tragen die Traumaerinnerungen in sich. Gleichzeitig entstehen ein oder mehrere Persönlichkeitsanteile, die für das Leben, den Alltag zuständig sind. Diese Persönlichkeiten können sich tatsächlich oft nicht an die Traumatisierungen erinnern. Viel mehr versuchen sie sich "den Schrecken von damals sozusagen vom Hals zu halten", um das Leben, den Alltag, bewältigen zu können. Nach dem Trauma versucht(en) die Alltagspersönlichkeit(en) mit allen Mitteln, die traumatische Erfahrung und die posttraumatisch immer wieder aufflammenden Erinnerungen an das erlebte Trauma unter Kontrolle zu bringen, um irgendwie ihr Leben im Griff zu halten.

Wie stark unser Ich sich zum Überleben aufspalten muss, welche dissoziativen Symptome dauerhaft bestehen bleiben und welche der dissoziativen Störungen (Überlebensstrategien) wir entwickeln, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab.

[IHR HEUTE]

sie zerbricht.
sie wurde zerbrochen
damals ist sie zerbrochen worden.
sie ist heute schon groß und erwachsen
doch sie ist niemals vollständig & ganz
leider fühlt sie sich ziemlich klein.
das war wohl der Preis dafür
dass sie heute noch lächeln
und (er–) leben kann
sie weint lautlos
ohne Tränen

[IHR GESTERN]
= sie erinnert sich ganz u n g e f r a g t

(die Regenkatzen)

Bin ich viele  –  ich bin viele  –  wir sind eine/r

Lassen wir am Anfang eine Viele–Frau zu Wort kommen:

Wir möchten uns heute nicht mehr von denen (Tätern) abhängig machen, uns nicht mehr unser Leben von denen diktieren lassen. Wir wollen nie mehr so leiden, wie wir es immer mussten. Wir wollen leben. Wir haben gerade eine Zeit, wo die Körperwahrnehmung hinhaut, wir essen können, um uns was Gutes zu tun, in der wir uns ganz, ganz nah sind. Wir haben gemerkt, dass wir nur als Team gegen sie (Täter) ankommen, dass wir nur heilen und "rund werden" können wenn wir uns ganz viel gegenseitig helfen, zu heilen, zu reifen, "groß und stark" zu werden, Selbstliebe zu entwickeln und stolz auf uns und unser Leben zu sein. Es ist uns verdammt klar, dass wir uns heute von NIEMANDEM mehr in irgendein Muster oder Raster pressen lassen möchten. Wir wollen sein, wie wir eigentlich sind. Wir wollen ein Leben führen, in dem es uns allen irgendwie "scheißegal" ist wie wir aussehen, in dem wir einfach für uns und unseren Körper sorgen möchten und uns und ihm Gutes tun wollen, damit wir endlich "fit" werden. Ein Leben in dem wir wieder rund werden können. Weißt du, diese Vorstellung vom rund sein finden wir irgendwie schön. Gefühlt gibt`s bei uns einen gemeinsamen kleinen inneren Kern, der blass und trüb ist, der aber ne kräftige Farbe an sich hat. Und wir alle sind einzelne "Partikel", die irgendwie komplett verstreut drumherum "schwimmen". Ein paar haben sich schon gruppiert, aber andere sind noch ganz weit weg. Manche haben noch riesige Barrieren um sich rum etc. Gefühlt ist es unser aller Ziel, unsere einzelnen "Partikel" wieder kreisförmig um den Kern herum anzuordnen, so dass wir wieder alle zusammen einen großen runden bunten Kreis ergeben. Es dürfen ruhig noch dünne Barrieren zwischen den einzelnen "Partikeln" / Innis sein , aber sie sollen sich zusammen anordnen, so dass sie gemeinsam agieren können und mehr Wahl haben, wann wer wie reagiert, Absprachen einfacher sind und wir wieder zusammen sind, wie wir es auch mal waren. Das ist irgendwie eine verdammt schöne Vorstellung…

Manche Menschen wissen schon ihr ganzes Leben lang, dass sie Viele sind. Andere mussten erst einen langen Weg zurücklegen, bis sie die passende Erklärung für ihr "Anders–Sein" gefunden hatten  –  eine andere stimmige Erklärung und nicht die vielleicht oft gehörte Aussage "du bist komisch" oder "du bist verrückt". Wieder andere Viele–Menschen wachsen mit dem Gefühl auf irgendwie anders zu sein als andere, während manche Viele–Menschen davon ausgehen, dass alle Menschen so sind wie sie.

Bei Viele–Menschen "teilen sich mehrere eigenständige Persönlichkeiten einen Körper". Die Persönlichkeiten sind individuell genauso verschieden wie ein Mensch (oder Uno) sich von einem anderen Menschen (oder Uno) unterscheidet. Es kann Persönlichkeiten verschiedenen Alters und verschiedenen Geschlechts geben. Manche von ihnen bleiben immer so alt, wie sie bei ihrer Entstehung waren, andere werden älter und entwickeln sich. Manche kennen einander andere nicht. Was Viele–Menschen alle kennen sind "Zeitverluste" oder "Zeitlücken". Das passiert immer dann, wenn eine Persönlichkeit "vorne" ist und eine oder mehrere andere nicht mitbekommen, was "draußen" passiert. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Persönlichkeiten wird meistens "Wechsel" oder "Switch" genannt. "Draußen" oder "vorne" sein heißt im Körper zu sein, in der Außenwelt zu handeln. Innen sein heißt für Persönlichkeiten, sich in der Innenwelt aufzuhalten.

Eine männliche Innenperson sagt dazu:

Wenn ihr mich anschaut, dann seht ihr nur diesen (einen) Frauenkörper, aber in unserer Wirklichkeit steht dahinter ein ganzes Volk!

Viele–Sein und ein Team werden

Viele–Menschen finden ihre ganz eigenen Wege, mit ihrem Viele–Sein zu leben. Für Selbstakzeptanz und Verortung in der Welt als Viele–Mensch ist es fast unabdingbar auf Menschen zu treffen, die sie in ihrem So–Sein akzeptieren.

Für eine Teambildung kann wichtig sein:

  • sich kennenlernen
  • Voneinander mitbekommen, wer was wann und wie im Innen/Außen tut (Co–Bewusstsein entwickeln)
  • Kommunikation und Kooperation
  • sich gegenseitig wertschätzen lernen und anerkennen, dass alle im Team/System zum Überleben beigetragen haben
  • ein "Vertrauen" ineinander, ein "Glauben" an die eigenen innersystemischen Fähigkeiten und Ressourcen

Gedanken von Viele–Menschen für Viele–Menschen und Profis

Es hilft, wenn es jemanden gibt, der uns so annimmt, wie wir sind und uns hilft zu sortieren.

Mut machen, dass man damit leben kann.

Es gibt Viele–Menschen bei denen man außen die Unterschiede der Persönlichkeiten (fast) gar nicht merken kann. Das hat oft damit zu tun, dass Viele–Menschen ihr Leben lang gelernt haben, unauffällig zu sein.

Manche Profis sind Vollpfosten, wenn es um DIS geht. Nicht alle Profis sind auch Profis für DIS. Es liegt nicht an euch, ihr seid nicht falsch!

Vertraut auf eure eigenen Gefühle!

Gebt nicht auf  –  auch wenn ihr eine Diagnose nach der anderen bekommt. Ihr seid nicht verrückt  –  ihr seid vielleicht einfach "Viele" !

Viele–Sein ist keine Krankheit. Viele–Sein ist die Folge von dem, was uns passiert ist, was uns angetan worden ist, was wir überleben mussten. Nicht das Viele–Sein ist krank, das Leid, das wir überleben mussten, macht uns krank.

Wenn Profis mit Viele–Menschen arbeiten, dann sollten alle Persönlichkeiten des Viele–Systems in der Arbeit willkommen sein.
Sie sollten keine Versprechen machen, die sie nicht einhalten können.
Sie sollten verlässlich und authentisch sein  –  Multis (wie sich manche Viele–Menschen nennen im Gegensatz zu den Unos) brauchen viel mehr Zeit bis Grundvertrauen in andere Menschen entsteht.
Manche Multis sprechen von sich in der Wir–Form und möchten auch so angesprochen werden.
Die verschiedenen Persönlichkeiten sollten darin, wie sie angesprochen werden möchten, respektiert werden.
Da der Nachname oft ein Trigger ist oder sich vielleicht keine der Persönlichkeiten mit diesem Namen angesprochen fühlt, klären, wie die Ansprache sein soll.
Mit allen Persönlichkeiten sollte respektvoll umgegangen werden.

(gesammelt in einer Gruppe für Viele–Menschen)

Bin ich Viele?

Einige Anzeichen, die darauf hinweisen können, dass ich vielleicht Viele bin:

  • Ich habe im Alltag "Zeitlücken" von einigen Stunden bis zu mehreren Tagen oder Wochen.
  • Ich höre Stimmen, kann teilweise sogar mit ihnen kommunizieren. Sie kommen von innen und nicht von außen.
  • Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Körper nicht alleine bin, ihn mir mit anderen "Personen" teile.
  • Manchmal kann ich mir selbst bei meinen Handlungen zugucken, habe aber gleichzeitig das Gefühl, dass ich gar nicht selbst agiere und auch nicht in das Geschehen eingreifen kann.
  • Ich habe ganz unterschiedliche Handschriften.
  • Ich finde Zettelchen, Tagebucheinträge, Bilder, die ich nicht geschrieben oder gemalt habe.
  • In meinem Schrank hängt Kleidung, bei der mir die Erinnerung fehlt, dass ich sie jemals gekauft habe und die überhaupt nicht meinem Kleidungsstil entspricht.
  • Mir fremde Menschen grüßen mich und scheinen mich zu kennen.
  • Ich kann mich nicht erinnern, wie ich von A nach B gekommen bin, finde mich in einer fremden Stadt wieder.
  • Meine Mitmenschen sagen ich sei recht schwankend in meinen Einstellungen.
  • Ich habe ein Bündel an Diagnosen in meinem Gepäck und keine der erfolgten Therapien hat dauerhaft eine Verbesserung gebracht.

Ein kleiner Teil von all dem, was Viele–Menschen ausmacht, hat jetzt hier einen Platz gefunden, und daneben gäbe es noch so viel mehr zu sagen.

Wenn Sie sich oder ihr euch angesprochen fühlt, wenn noch viele Fragen offen geblieben sind, dann ist vielleicht jetzt der Zeitpunkt für ein persönliches Gespräch gekommen. Kontaktinformationen erscheinen nach Klick ;-)